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Zöli zu Besuch – Oder: Warum ich eure Gastfreundschaft ausschlagen muss

  • Warum darf mein Sohn die glutenfreien Brötchen im Schullandheim nicht essen, wenn sie mit dem selben Messer aufgeschnitten werden wie die „normalen“ Brötchen? Oder sogar mit diesen in einem Korb liegen?
  • Warum darf meine Tochter nicht den glutenfreien Muffin essen, den sie bei der Geburtstagsfeier im Kindergarten von einem anderen Kind gereicht bekommt, weil dieses Kind noch die Krümel von seinem „normalen“ Kuchen in der Hand kleben hat?
  • Warum muss die Marmelade beim gemeinsamen Familienbrunch in einem eigenen Behältnis sein, wenn doch jeder sein eigenes Messer benutzt?
  • Warum darf mein Kind die Pommes nicht essen, weil im selben Fritierfett auch die Chicken Nuggets landen?
  • Warum lehne ich das Gemüse vorsichtshalber ab, weil unklar ist, in welcher Brühe es gegart wurde?
  • Und letztlich: warum mache ich als Mutter einen Aufstand, wenn in der Schule gemeinsam (Weihnachts-)Plätzchen gebacken werden?

Weil in allen diesen Fällen eine Kontaminierungsgefahr besteht!

Im Beitrag „Wie wird mein Haushalt glutenfrei?“ gebe ich eine Anleitung dafür, wie betroffene Familien ihre Küche mitsamt Lebensmitteln und Einrichtung so gestalten können, dass problemlos eine kontaminierungsfreie Ernährung im eigenen Zuhause gewährleistet ist.

Doch wie können wir uns absichern, wenn wir ausserhalb von zu Hause essen? Zugegeben, mein Beitragstitel ist leicht provokant und kann sicherlich auch nicht auf alle Menschen angewendet werden, die im Verwandten- oder Bekanntenkreis mit Zöliakie konfrontiert werden. Aber:

  • Was müssen Tante, Onkel, Oma, Opa wissen, wenn die Zöli-Familie zum Brunch oder Kaffeetrinken eintrudelt?
  • Was müssen Eltern der Freunde wissen, wenn das Zöli-Kind zum Spielen kommt?
  • Was müssen Erzieher-/innen und Lehrer-/innen über ein Zöli-Kind in ihrer Gruppe bzw. Klasse wissen, wenn gemeinsam gebacken und gegessen wird?

Diese Fragen möchte ich beantworten und damit dem Kreis der Verwandten, Bekannten und Freunden von betroffenen Familien den Umgang mit der Zöliakie erleichtern.

Dabei strebe ich ausdrücklich keine wissenschaftliche oder medizinische Darstellung an! Ein paar Fragen müssen jedoch vorab beantwortet werden.

Was ist Gluten?
Gluten, auch (Weizen-)Kleber genannt, ist ein Proteingemisch, das in den gängigsten unserer Getreide (Weizen, Dinkel, Roggen, Gerste, Hafer) vorkommt. Beim Vermischen von Mehl aus diesen Getreidearten mit Wasser entsteht Klebereiweiß, dass es ermöglicht, einen beständigen Teig zu bilden und zu formen. Deshalb haben wir so schöne und vielfältige Brot- und Kuchenformen.

Wieso ist Gluten schädlich?
Bei Menschen, die an der Autoimmunerkrankung Zöliakie leiden, verursacht das Gluten eine chronische Entzündung der Dünndarmschleimhaut. Vereinfacht gesagt, bilden sich die Zotten an der Innenseite des Dünndarms derart zurück, dass Nährstoffe nicht mehr aufgenommen werden können und unverdaut vom Körper ausgeschieden werden. Insbesondere bei Kindern führt dies zu massiven Entwicklungsstörungen und dadurch hervorgerufene völlige Antriebslosigkeit. Bei Erwachsenen treten Nährstoffmängel auf und verbunden damit erhöht sich um ein Vielfaches die Wahrscheinlichkeit, weitere chronische Erkrankungen wie Diabetes, Hashimoto, Osteoporose und diverse Krebsarten zu entwickeln.

Wie äußert sich ein Glutenunfall (eine versehentliche Einnahme von Gluten)?
Jeder Mensch ist anders. Einige Patienten reagieren sofort mit Bauchkrämpfen, Durchfall, Übergeben. Bei anderen zeigen sich diese Symptome erst im Laufe der folgenden Stunden. Manche Patienten haben keine direkten äußerlich sichtbaren Anzeichen, aber die o. g. Schädigung des Darms tritt dennoch auf.

  • Es ist schwierig Vergleiche zu bieten, aber ich möchte es versuchen:
    • einem Nussallergiker würde man nicht eine einzige Erdnuss anbieten,
    • einen Diabetiker würde man nicht zum Genuss eines Eisbechers drängen,
    • einen Asthmatiker würde man nicht zur Teilnahme beim Ironman überreden.

Welche Therapie gibt es?
Die einzige bisher bekannte erfolgreiche Therapie ist die Einhaltung einer strikten Diät in Form von völligem Glutenverzicht. Forschungen zur Entwicklung eines Medikamentes (ähnlich der Laktasepräparate bei Laktoseintoleranz) konnten bislang keine zufriedenstellenden Ergebnisse erzielen.

Muss wirklich völlig auf Gluten verzichtet werden? JAAA!!!
Es ist lebensmitteltechnisch äußerst schwierig, ein Lebensmittel eindeutig glutenfrei herzustellen; schon bei der Ernte von Mais können beispielsweise Pollen vom benachbarten Weizenfeld auf den Mais gelangen. (Wie sieht es dann erst im verarbeitenden Betrieb aus, wo Mehlstaub entsteht?) Es wurde daher ein Grenzwert festgelegt*, der als für Zöliakie-Betroffene ungefährlich gilt. Liegt der Glutengehalt eines Lebensmittels unter diesem Grenzwert, darf es als glutenfrei deklariert werden.

  • Der Grenzwert liegt bei max. 20 ppm (20 mg/1 kg) Gluten, bezogen auf das jeweilige Erzeugnis. Dieser Wert gilt demnach als für Zöliakiebetroffene ungiftig.
  • Ich habe es versucht, aber es ist äußerst schwierig, 20 mg zu versinnbildlichen:
    • teilen wir 1 kg Mehl in 50.000 Teile auf, haben wir jeweils Anteile von 20 mg,
    • ein Gummibärchen wiegt ca. 2 g, aufgeteilt in 100 Stücke (gleichen Gewichts) erhalten wir Teile von 20 mg,
    • ein Stückchen normales Schreibpapier (80g/qm) mit einer Länge von 2,1 cm und einer Breite von 1,2 cm wiegt 20 mg,
    • ein Brotkrümel wiegt ca. 1 g (EIN GRAMM!), 1/50 davon entspricht also in etwa 20 mg.
20 mg
Die 1-Cent-Münze wiegt übrigens ziemlich genau 2,3 Gramm!!
  • Wichtig: dieser Grenzwert bezieht sich auf 1 kg des jeweiligen Erzeugnisses und besagt nicht, dass ein Zöliakie-Betroffener diesen Wert auch tatsächlich zu sich nehmen darf!! (Wer isst beispielsweise ein ganzes Kilogramm Mehl am Tag? Aber hier zeigt sich, dass eben bei jedem Lebensmittel auf den Glutengehalt geachtet werden muss, denn insgesamt summiert sich ja die Tagesmenge der Nahrung, die Jeder zu sich nimmt.)

20 Milligramm ist also wirklich so richtig wenig: demnach verzichten Menschen mit Zöliakie nicht deshalb auf Gluten, weil

  • es nicht schmeckt: Gluten schmeckt ungewürzt quasi nach nichts, oder
  • es dick macht: Gluten macht nicht dick; übrigens kann man durchaus auch mit glutenfreier Kost Übergewicht haben, oder
  • es gerade in ist: kann „echte“ Pizza jemals out sein?, ist Fleischersatz, der meistens auf (glutenhaltiger) Getreidebasis ist, etwa out?

Auch geringste Mengen an Gluten schädigen die Darmwand des Zöliakie-Kranken und führen zu den o. a. Erkrankungen.

OBWOHL WIR ES NICHT MÖCHTEN,
ERSCHEINEN WIR MANCHEM ALS UNHÖFLICH!

Andererseits rücken dann auch Reaktionen wie

  • „Stell dich nicht so an.“,
  • „Das eine Mal wird schon nicht schaden.“,
  • „Du bist aber penibel.“,
  • „Ihr immer mit euren Sonderwünschen.“ oder
  • „Das ist doch nur wieder so eine Modeerscheinung.“

in ein anderes Licht.

Zöliakie-Betroffene möchten ernst genommen werden! Der Umgang mit der Zöliakie kann ganz schön anstrengend und zermürbend sein. Sicherlich gibt es viele, die Essenseinladungen lieber ausschlagen oder freundlich bestimmt ablehnen, weil sie der Erklärungen müde geworden sind. Niemand möchte hinterrücks als „Korinthenkacker“ betitelt werden.

Ist das glutenfrei?
© liegt bei meiner Tochter

Aber, und hier komme ich zur Beantwortung der eingangs gestellten Fragen:

  • In einem nicht absolut restlos zu reinigendem Behältnis, wie einem Brotkorb, bleiben immer Krümel vom glutenhaltigen Brötchen zurück. Wird ein „normales“ Brötchen über dem glutenfreien Brötchen aufgeschnitten, fallen glutenhaltige Krümel auf dieses.
  • Glutenhaltige Krümel die an (klebrigen) Fingern hängen, werden auf den glutenfreien Muffin übertragen.
  • An einem Messer bleiben immer Krümel hängen, die dann in die Marmelade (oder Butter, Frischkäse, Leberwurst etc.) geraten.
  • Die Panade der Chicken Nuggets krümelt in das Frittierfett und bleibt an den Pommes haften.
  • Die meisten Gemüsebrühen enthalten glutenhaltige Bestandteile, wie z. B. Weizenstärke oder Gerstenmalzextrakt.
  • In Gemeinschaftseinrichtungen können und dürfen von Zöliakie betroffene Kinder nicht beim (Weihnachts-)Plätzchen backen teilnehmen. Es gelangt immer Mehl über die Hände in den Mund.

Ich hoffe, ich konnte ein wenig zum Verständnis für den Umgang mit Zöliakie-Betroffenen beitragen. Bei Fragen oder hilfreichen Ergänzungen freue ich mich wie immer sehr über eure Kommentare. Bis dahin viel Spaß beim Stöbern durch meinen Blog wünscht euch Stephfanny 🙂

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Allen, die weitergehende Informationen oder den Austausch mit Betroffenen suchen, lege ich den Besuch der folgenden Internetseiten ans Herz:

DZG- Deutsche Zöliakie Gesellschaft

Facebookgruppe_Zoeliakie-Austausch_300x100

Ratgeber Zöliakie

(*Vom EU-Gesetzgeber nach den Vorgaben des Codex Alimentarius von WHO und FAO übernommener Grenzwert.

Wichtig: dieser Grenzwert bezieht sich auf 1 kg des jeweiligen Erzeugnisses und besagt nicht, dass ein Zöliakie-Betroffener diesen Wert auch zu sich nehmen darf!! Dieser Wert ist äußerst unterschiedlich, je nach dem Grad der Krankheitsausprägung. Empfohlen wird, dass der maximale Wert pro Tag (!) bei höchstens 10 mg liegt.)

5 Gedanken zu „Zöli zu Besuch – Oder: Warum ich eure Gastfreundschaft ausschlagen muss“

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